Wissensdurst

Fussnote
Hubert Herkommer


C
omic-Leser wissen Bescheid. Mit ihren geschulten Augen sind sie blitzschnell im Bild, wenn bestimmte Geräusche auftreten: KLACK, TONK oder KLOMP trifft der Schlag auf den Schädel, THUUWT schnellt der Pfeil von der Sehne und THWITT die Harpune ins Fleisch. SMACH sitzt die Ohrfeige, RÖRÖRÖ freut sich der Säugling, und GLUMP kommt ein Monster zur Welt. Das hier praktizierte Verfahren der Lautmalerei ist uralt. Was sollen Frösche anderes tun als quaken, Grillen anderes als zirpen. Im Frühling ruft der Kuckuck genau so aus dem Wald, wie er heisst; und die Hähne krähen frühmorgens ihr «kikeriki», unberührt davon, dass ihre französischen Kollegen nicht richtig Deutsch können und «cocorico» schreien.
Die Klangwelt der Lautmalerei ist jüngst um ein weiteres Element bereichert worden: PFFFT! Dieses erscheint nicht in den Bildheften, sondern ertönt sinnennah in den Hörsälen der Universität, wo es neuerdings seinen angemessenen Sitz im Leben gefunden hat. Während einer Vorlesung über das althochdeutsche Hildebrandslied, das den tragischen Kampf zwischen Vater und Sohn schildert, verbreitet sich das akustische Signal unaufhaltsam durch den Raum und untermalt seufzend die Klage des alten Hildebrand: «Welaga nu, waltant got, wewurt skihit. Weh nun, waltender Gott, Unheil geschieht (PFFFT vorne rechts)! Dreissig Jahre, Sommer und Winter, zog ich umher in fremdem Land; stets war mein Platz an der Spitze des Heerkeils; doch vor keiner Burg hat man den Tod mir gebracht (PFFFT hinten links): Nun soll mich der eigene Sohn mit dem Schwert erschlagen, mit der Schneide mich treffen oder ich zum Mörder ihm werden» (PFFFT PFFFT aus der Mitte). Würde man sich nicht ganz auf seine Vorlesung konzentrieren, dann könnte man kurz nach dem PFFFT vermutlich auch noch das leisere GLUNK oder UNK vernehmen, das in den Comics fürs Schlucken steht.
Seit ein paar Semestern haben die Mineralwasserfläschchen mit ihrem Kohlensäure ablassenden PFFFT in den universitären Veranstaltungen Einzug gehalten. Die Aufmerksamkeit der Studierenden wird dadurch keineswegs abgelenkt. Wenn sie in regelmässigen Abständen schlückchenweise aus ihren Fläschchen trinken, schauen sie unbeirrt nach vorne, in souveräner Missachtung der mittelalterlichen Anstandsregel, nach der es sich, jedenfalls für Hofleute, nicht ziemt, beim Trinken übers Glas zu schauen.
Zuerst war ich bass erstaunt über die ungewohnte Geräuschkulisse. Dann stellte ich drei Erklärungsvarianten auf, eine gesundheitliche, eine selbstkritische und eine psychoanalytische: Da der Mensch täglich zwei Liter Flüssigkeit zu sich nehmen soll, sagte ich meinem studentischen Publikum, verstünde ich, dass man die 45-minütige Vorlesungsstunde davon nicht ausnehmen könne. Dann versprach ich, meine Vorlesung «feuchter» zu halten, da sie ja offensichtlich austrocknend wirke. Und schliesslich erwog ich etwas zögerlich, ob der heutige Universitätsbetrieb mit seinen mannigfachen Bevormundungen nicht genau das begünstige, was der selige Sigmund Freud die orale Regression genannt hat, den Rückzug nämlich auf die frühkindliche, lustbetonte Mundzone – zum Wohlgefallen der Getränkeindustrie.

Unbeeindruckt von meinen Bemerkungen hält der studentische Durst unvermindert an. Und ich schaue inzwischen mit dem deutenden Blick des Literaturwissenschafters ganz cool auf die grünen und weissen Fläschchen. Die Aufnahme der geräuschvoll sprudelnden Flüssigkeit ist, so sage ich mir, der symbolische Ausdruck eines unlöschbaren Wissensdurstes. Das Wasser des Lebens oder das Wasser der Weisheit, der Trank aus dem Musenquell, warum sollte es dies alles nur in den Mythen geben und nicht auch hier und jetzt, im Schoss der Alma Mater, der nährenden (durststillenden) Mutter, wie die Universität einmal genannt wurde. In Anbetracht der durch den Hörsaal schwebenden PFFFTs liesse sich mit dem Minnesänger Walther von der Vogelweide sogar noch der Heilige Geist herabbeschwören, «daz er mit sîner süezen fiuhte ein dürrez herze erlabe».


Hubert Herkommer ist Professor für
Deutsche Literatur des Mittelalters an
der Universität Bern
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H. Herkommer