Im Königreich Schweiz

Fussnote
Hubert Herkommer

 


Einst bestimmte der kirchliche Festkalender die Termine wichtiger Staatsgeschäfte. So war der morgige 6. Januar – Epiphanie, das Fest der Erscheinung des Herrn – als Krönungstag besonders geschätzt. Dann nämlich konnte der König, der sich als Stellvertreter Christi verstand, seine Herrschaft auch im Rahmen der Liturgie feiern lassen, wenn der Chor das eigentlich auf Christus gemünzte Eingangslied der Messe anstimmte: «Seht, der Gebieter, der Allherrscher ist da; in Seiner Hand ruht Königsmacht, Gewalt und Weltherrschaft.» Fragt man nach den Daten des alten Kalenders, die vormals die Abläufe des Lebens strukturierten, so ist das Ergebnis, mit konfessions- und herkunftsbedingten Unterschieden, mehr oder weniger bescheiden. Als eiserne Ration haben sich aber bei allen Befragten der 6. Dezember für St. Nikolaus, der 25. Dezember für Weihnachten, der 31. Dezember für Silvester, der 1. Januar für Neujahr und der 6. Januar für Dreikönige erhalten.
Schön, dass die Dreikönige überlebt haben, nicht zuletzt dank der genialen Wiederbelebung des traditionsreichen Dreikönigskuchens vor fünfzig Jahren. Was der Valentinstag und der Muttertag für die Gartenbetriebe und BIumenläden, das ist der Dreikönigskuchen für die grossen und kleinen Bäckereien. Nach begründeter Schätzung stehen dieser Tage über eine Million Kuchen zur Verfügung. Der Pfiff des goldbraunen mandel- oder hagelzuckerbestreuten Hefegebäcks liegt in dem darin versteckten Plasticfigürchen, an das sich die Essgemeinschaft mümmelnd und mampfend herantastet. Wer den lebensmittelechten Dreikönigwinzling zwischen den Zähnen hat, darf sich die mitgelieferte Krone aufsetzen. Auf diese Weise verwandelt sich alljährlich die republikanische Eidgenossenschaft in eine goldpapierene Monarchie. Die gekrönten Häupter beiderlei Geschlechts und verschiedener Lebensalter, immerhin fast ein Siebtel des ganzen Landes, dürfen dann, zumindest der Theorie nach, einen ganzen Tag lang an ihrem Wirkungsort das Zepter schwingen.
Dieser Brauch hat mit dem Sinn des Erscheinungsfestes nichts zu tun. Dessen wichtigster Inhalt besteht in der Verehrung des neugeborenen Kindes durch die Magier aus dem Orient, «die Weisen aus dem Morgenland». Diese waren einem Stern gefolgt, den sie in ihrer Heimat hatten aufleuchten sehen. Eindrucksvoll erzählt das Dreikönigsfenster des Berner Münsters ihre Geschichte. Dass die Magier zu dritt waren, wurde aus der Dreizahl ihrer Geschenke Gold, Weihrauch und Myrrhe abgeleitet.
Zu Königen befördert wurden sie erstmals im 3. Jahrhundert. Vom 9. Jahrhundert an setzten sich ihre Namen Caspar, Melchior und Balthasar durch. Seit dem Frühmittelalter wurden sie als Vertreter der drei Lebensalter wahrgenommen und von den Künstlern als Jüngling, Mann und Greis dargestellt. Und als die Dreikönige später auch die damals bekannten drei Erdteile Asien, Afrika und Europa repräsentieren sollten, wurde einer von ihnen zum Mohrenkönig. Doch weit und breit kein Dreikönigskuchen!

Die Brauchtumsforschung führt das Königsamt, das man beim Kuchenessen gewinnt, auf die römischen Saturnalien zurück. Das Volksfest zu Ehren des Gottes Saturn begann am 17. Dezember und dauerte mehrere Tage. Während des ausgelassenen Treibens kam es zu einer karnevalesken Vertauschung der Rollen von Herr und Sklave. Narrenfreiheit herrschte, als die gesellschaftliche Ordnung zum Jahresende für eine kurze Frist auf den Kopf gestellt wurde. Der christliche Kalender hat das alte heidnische Fest vom Dezember in den Januar abgedrängt, wo zum Dreikönigstag die einstige Aufhebung der sozialen Schranken in dem zufällig erworbenen Königtum wiederkehrt. So gesehen, steckt in dem weissen Plasticfigürchen der «galette des rois» ein Stückchen Utopie. Das könnte doch die Trägerinnen und Träger der Papierkrone beflügeln – und sei es auch nur für einen einzigen Tag.


Hubert Herkommer ist Professor für
Deutsche Literatur des Mittelalters an
der Universität Bern.

 
H. Herkommer