Kölnischwasser
Fussnote
Hubert Herkommer
Im
Jahre 1959 konnten die Archäologen einer elektrisierten Öffentlichkeit
einen spektakulären Fund unterbreiten. Mehrere Meter unter dem
Chorboden des Kölner Domes war man unerwartet auf zwei Gräber
gestossen, die mit besonders kostbaren Beigaben ausgestattet waren.
In einem der beiden Gräber war nach Auskunft der Anthropologen
eine 25 bis 30 Jahre alte Frau bestattet, in der man Wisigarde vermutete,
die langobardische Prinzessin und Gemahlin des Frankenkönigs Theudebert
I. (534 bis 547). Im zweiten Grab war ein Knabe beigesetzt worden. Bei
diesem jung verstorbenen Prinzen muss es sich gleichfalls um einen Angehörigen
des merowingischen Königshauses gehandelt haben. Von den Fachleuten
konnten die beiden Gräber recht genau auf die Zeit um 537 n. Chr.
datiert werden.
Die eigentliche Sensation der unversehrten Gräber bestand nicht
einmal so sehr in dem edlen Kopf- und Armschmuck, den Ohr-, Arm- und
Fingerringen oder dem Halsschmuck mit Anhängern aus römischen
Goldmünzen, die das Frauengrab freigab; und auch nicht in der kompletten
Waffengarnitur oder dem Bett und dem Stuhl aus Pflaumen- und Eichenholz,
die dem Knaben ins Grab gestellt worden waren. Die wirkliche Sensation
war die über 1400 Jahre alte Flüssigkeit, die sich in Glasgefässen
der beiden Gräber befand. Die Rheinländer freuten sich über
die unglaubliche Qualität dieses ans Tageslicht gelangten uralten
«Kölnischwasser». Als 1959 die Flüssigkeit aus
der Glasflasche des Frauengrabes untersucht wurde, fand man darin nicht
die geringsten chemischen Spuren. So frappant das Ergebnis war –
Wasser pur –‚ so gross war der Nachteil der damals angewandten
Untersuchungsmethode, bei der die gesamte Flüssigkeit aufgebraucht
worden war.
Erst im Herbst 1987, nachdem verfeinerte Analyseverfahren entwickelt
waren, erlaubte das Kölner Domkapitel, jetzt auch die Flüssigkeit
aus der Glasflasche des Knabengrabes genauer zu untersuchen.
Man benötigte nur zwei Tropfen,
um auch jetzt wieder festzustellen: Wasser in reinster Form, frei von
jeglicher Verunreinigung, wie wir es heute im Quellwasser oder in unserem
Trinkwasser längst nicht mehr finden, reiner sogar noch als eine
mit grossem Aufwand künstlich hergestellte Wasserprobe. Fürwahr,
ein Wasser des Lebens für die grosse Reise ins Reich der Toten!
Aber trotz «Kölnischwasser» blieb auch das Mittelalter
bald nicht mehr von massiven Umweltproblemen verschont. Unsere Kronzeugin
dafür ist Hildegard von Bingen (1098 bis 1179), jedoch nicht jene
verharmloste Hildegard, um die abergläubisch die Esoterik-Märkte
kreisen, mit all ihren angepriesenen Heilmitteln vom Hirschzungenwein
bis zum Nervenkeks. Beim todernsten Kapitel der Umweltverschmutzung
ist die wirkliche Hildegard gefragt, die gewaltige Seherin und Prophetin
mit ihrer scharfen Kritik an Kirche und Gesellschaft.
Für diese Frau sind Mensch und Kosmos so unzertrennlich aufeinander
bezogen, dass die Umwelt des Menschen bei Lichte besehen nichts weniger
verkörpert als seine Mitwelt, die ihn am Leben erhält. In
ihrem «Buch der Lebensverdienste» ist Hildegards Schau von
der erschütternden Klage der Elemente aufgeschrieben.
Diese beschweren sich vor Gott
«mit einem wilden Schrei» über das unselige Verhalten
der Menschen: «Sie kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in
einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken schon wie die Pest.»
Ihre ökologischen Sünden müssen die Menschen an ihrem
eigenen Leib büssen: «Die Luft speit Schmutz aus, so dass
sie nicht einmal mehr recht ihren Mund aufzumachen wagen.»
Welche Bilder würden wohl die heilige Hildegard im Zeitalter von
Rio, Kyoto und Johannesburg heimsuchen?
So bleibt das «Kölnischwasser» für uns ein nie
mehr einholbarer Traum. Zum Glück ist uns ja auch das mythische
Bestattungsritual aus dem 6. Jahrhundert abhanden gekommen. Unsere Verstorbenen
fänden bei ihrer letzten Fahrt wenig Labung an jener Sorte Wasser,
die wir ihnen in den Sarg legen würden: ein Wasser, dessen Normalfall
inzwischen zum menschenverursachten Störfall geworden ist, mit
seinen hineingespülten Resten aus Haushalt, Landwirtschaft, verschmutzter
Luft und Industrie.
Hubert
Herkommer ist Professor für
Deutsche Literatur des Mittelalters an
der Universität Bern.