Himmlische Neutralität

Fussnote
Hubert Herkommer


Engel haben Hochkonjunktur, nicht nur zur Weihnachtszeit. Der einschlägige Buchmarkt ist nicht mehr zu überblicken. Engel sind Kult, allen voran die Schutzengel. Laut Umfragen halten sogar Menschen, die von einem Gott nichts wissen wollen, an jenen geheimnisvollen Lichtgestalten fest, die doch einstmals seine Boten waren. Mit den Engeln boomen ihre gestürzten Gegenspieler, die Teufel. Auch der Satanskult ist in. Wie aber sind Engel und Teufel ins kollektive Bildergedächtnis gelangt, aus dem sie mitten in einer durchrationalisierten Gegenwart (denkt man doch) jederzeit ins Freie treten können? Die Antwort führt zurück zu einem Sammelbecken uralter jüdisch-christlicher Schriften abseits der offiziellen Bibel. Von dort stammt die Vorstellung eines schauerlichen Urdramas, eines himmlischen Putschversuches. Luzifer, der intelligenteste, schönste und stolzeste Engel, hatte aufbegehrt, weil ihm zugemutet worden war, in Adam, damals noch unsterblich, das Abbild Gottes zu verehren. Unter seiner Führung rebellierte der halbe Himmel gegen die göttliche Majestät und Herrschaft. Siegreich blieb in diesem Kampf das vom Erzengel Michael befehligte Heer der guten Engel. Die bösen Engel stürzten in die Hölle. Und seitdem ist der Teufel los. Doch eine Schar von Engeln, so heisst es später, wollte sich in diesem fundamentalen Weltkonflikt nicht festlegen. Das eingeforderte Entweder-oder gefiel ihnen nicht. Sie bevorzugten einen dritten Weg und waren weder für Luzifer noch für Michael, sondern neutral.

Neutrale Engel, ja gibt es denn so was? Es gibt sie! Jedenfalls im Mittelalter, bei Wolfram von Eschenbach, einem der grössten Dichter deutscher Zunge, dem begnadeten Schöpfer des Parzivalromans. Woher aber weiss Wolfram, wohlgemerkt kein Eidgenosse, von diesem Sonderfall der himmlischen Neutralität? Darüber rätselt und mutmasst die Forschung bis heute. Unklar ist auch die Frage, welche Rolle der Dichter diesen Engeln zuspricht. Im Roman bringt der Einsiedler Trevrizent diese sonderbare Spezies ins Spiel, als er Parzival, seinen mit Gott hadernden Neffen, über den Gral aufklärt. Der Gral ist ein magisch-sakrales Ding, märchenhaftes Tischleindeckdich und geheimnisumwobener Garant für nie versiegende Lebensenergie und Jugend. Seine Wunder wirkende Kraft erhält dieser Stein durch eine Hostie, die alljährlich am Karfreitag eine vom Himmel herabschwebende Taube auf ihm niederlegt. Die neutralen Engel, die «newederhalp», die auf keiner der beiden Seiten standen, als Luzifer und die Trinität ihren Kampf ausfochten, hat Gott auf die Erde geschickt, damit sie dort den reinen Gral hüten. Ob er ihnen ihre Unentschlossenheit verziehen hat, das weiss der Einsiedler nicht anzugeben. Nachdem Parzival aber seine Verzweiflung überwunden hat und Gralskönig geworden ist, widerruft Trevrizent überraschend seine frühere Darstellung und äussert sich vernichtend über diese Engel: «êwiclîch sint si verlorn».

Dante (1265–1321) kennt in seiner «Göttlichen Komödie» mit den Neutralen auch kein Pardon. Er siedelt sie, die nicht Partei ergreifen wollten, im Vorraum der eigentlichen Hölle an, bei den lauen Menschenseelen, «die ohne Lob und ohne Schande lebten».
Ein glimpflicheres Schicksal ist unseren Engeln in der Legende von der Meerfahrt des heiligen Brandan beschieden. In einem insularen Niemandsland, weder Himmel noch Hölle noch Fegefeuer, warten sie zuversichtlich darauf, dass Gott sich irgendwann ihrer erbarmt. Bis dahin tragen sie allerdings Schweineköpfe wegen ihrer damaligen Unfähigkeit, den Unterschied zwischen Richtig und Falsch zu erkennen, und besitzen einen Hundeleib, weil sie sich stille hielten und nicht bellten, als Luzifer zum Angriff startete. Auch keine verlockende Perspektive! Da hält man es doch lieber mit der charmanten These vom Gralshüteramt jener Engel, die sich aus allem heraushielten, und behauptet, wie geschehen, dass Wolfram nur auf Druck von aussen an späterer Stelle des Romans seine unorthodoxe Engellehre korrigiert und die himmlische Neutralität in Verruf gebracht habe.

Hubert Herkommer ist Professor für
Deutsche Literatur des Mittelalters an der
Universität Bern.

 
H. Herkommer