«Mir ändere, mir ändere»

Fussnote
Hubert Herkommer


Bern ist nicht Wittenberg. Und doch hallte in den letzten Wochen das Reformationsereignis aus der Lutherstadt am Ufer der Aare nach: Mit 500-jähriger Verspätung ist auch Bern zu seinem Thesenanschlag gekommen. Sein Titel: «Bologna Thesenanschlag. Kritische Bemerkungen gegen Missverständnisse der Zeit, vornehmlich in unipolitischer Hinsicht.» Es sind genau 95 Thesen, die auf farbigen Blättern Wände und Türen der Universität Bern zieren, ebenso viele also, wie Martin Luther am 31. Oktober 1517 versandte (nach der Legende soll er sie an der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen haben).
Anlass für die studentischen Thesenschreiber ist die Bologna-Deklaration. Sie wurde am 19. Juni 1999 in Bologna von Regierungsvertretern aus 29 Ländern (also nicht nur von Mitgliedern der Europäischen Union) unterzeichnet, auch von der Schweiz. Ziel des Dokuments ist die Schaffung eines Europas des Wissens in Gestalt eines einheitlichen Hochschul- und Bildungsraumes. Er soll die Gewähr bieten für die Festigung und Bereicherung der europäischen Bürgerschaft. Wichtigstes Instrument bei der Herstellung vergleichbarer Studienbedingungen ist die allgemeine Einführung eines zweistufigen Ausbildungsganges. Der erste Abschluss erfolgt nach drei Jahren mit dem Erwerb des Bachelor-Diploms, der zweite Abschluss, auf dem Bachelor aufbauend, nach zwei weiteren Jahren mit dem Master-Diplom. Daran kann sich das Doktor-Studium anschliessen. Das ECTS, das European Credit Transfer System, bewertet die Studienleistungen nach ein und demselben Punktetarif, garantiert dadurch ihre Vergleichbarkeit über die Ländergrenzen hinweg und erleichtert auf diese Weise die Mobilität. So begeisternd die Vision ist, so arbeitsaufwendig und hindernisreich ist ihre konkrete Umsetzung. Denn vieles ist neu zu bedenken, überkommene Reglementsvorstellungen müssen aufgegeben werden, Fächergrenzen werden womöglich anders zu ziehen sein.
Nun wird ja unsere durchflexibilisierte Gesellschaft nachgerade von einem epidemischen Änderungsfieber geschüttelt: «mir ändere mir ändere / alls wo mir chöj ändere», singt der Berner Troubadour Ruedi Krebs, «u we mir alles gänderet hei / ja de änderemer / das wo mir scho gänderet hei.» Eine vernünftige Umsetzung der Bologna-Deklaration erfordert aber diesseits aller progressiv getarnten Änderungslust zuallererst Besonnenheit, Augenmass, koordiniertes Handeln schon im eigenen Land und nicht zuletzt eine originelle und effiziente Lehr- und Lernkunst. Die schnellsten Umsetzer werden nicht die vertrauenswürdigsten sein. Besonders die wissenschaftliche Qualität und die Arbeitsmarkttauglichkeit des grundlegenden Bachelor erfordert weitreichende konzeptionelle Neuüberlegungen. Da genügt es nicht, bisherige Studieneinheiten flugs in das Bologna-Modell umzugiessen.

Die 95 Berner Thesen stehen dem gesamteuropäischen Vorhaben misstrauisch gegenüber. Über weite Strecken werden sie dem Geist des Dokuments und den im Juni verabschiedeten Grundsätzen für seine Umsetzung an der Universität Bern kaum gerecht, so, wenn es zum Beispiel heisst: «Bildung als Ware ist das wahre Ziel der Bologna-Deklaration»; oder: «Die strukturellen Barrieren für Frauen werden durch die Bachelor-Master-Studiengänge verstärkt»; ferner: «Durch Bologna wird der Kooperationsgedanke noch stärker durch den Konkurrenzgedanken verdrängt.» In einem Punkt aber werden alle Einsichtigen den engagierten Verfassern zustimmen: Zum Nulltarif ist diese Jahrhundertreform, wie man sie genannt hat, mit Sicherheit nicht zu haben. Das Modell ist auf Vollzeitstudierende ausgerichtet, von denen es aus finanziellen Gründen immer weniger gibt. Also wird man das Stipendienwesen bis zum Master-Abschluss kräftig ausbauen müssen.
Die Hochschulen Europas haben Grosses vor. Grund genug, uns angesichts der notwendigen, aber schwierigen Aufgabe mit unserem Berner Troubadour rechtzeitig auf Selbstkritik und auf eine Haltung vorsichtigen Hinterfragens einzustimmen: «’s mues ändere we mir’s besser wej / aber besseret’s we mir’s anders hei?»

Hubert Herkommer ist Professor
für Deutsche Literatur des Mittelalters
an der Universität Bern.

 
H. Herkommer