In
den Wortgefechten politischer Auseinandersetzungen ist immer dann
vom Mittelalter die Rede, wenn ein gegnerisches Vorhaben in Misskredit
gebracht werden soll, eben als mittelalterlich und damit als altmodisch,
hinterwäldlerisch oder gar reaktionär. Die so reden,
sind eigentlich der Aufklärung verpflichtet, als im 18. Jahrhundert
die Vorstellung vom «Finsteren Mittelalter» Hochkonjunktur
hatte, spätes Erbe aus den Abrechnungen der Humanisten und
Reformatoren mit mönchischem Küchenlatein, papistischer
Arroganz und pfäffischer Ignoranz. «Les Lumières»
hiess das damalige Gegenprogramm, Sarastro gehörte die Stunde:
«Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht, / Zernichten
der Heuchler erschlichene Macht.» Mit der Literatur des
Mittelalters war kein Staat zu machen. Der Preussenkönig
Friedrich der Grosse verweigerte die Annahme eines ihm gewidmeten
Exemplars des frisch gedruckten Nibelungenliedes, weil dergleichen
elendes Zeug nicht einen Schuss Pulver wert sei. Die Romantiker
lösten schliesslich die Gegenbewegung aus. Herder hatte sie
mit vorbereitet, als er den kränkelnden Gedanken und der
philosophischen Abgespanntheit seiner Zeitgenossen den Geist der
gotischen Epoche entgegensetzte: «Andacht und Ritterehre,
Liebeskühnheit und Bürgerstärke – Staatsverfassung
und Gesetzgebung, Religion.» Mit Novalis’ Essay «Die
Christenheit oder Europa» war das Mittelalter endgültig
rehabilitiert.
Bekanntes
Germanistentrio
Allen späteren nationalistischen Vereinnahmungen des sträflich
aufs Germanische reduzierten und antiwelsch getrimmten Mittelalters
zum Trotz war nun ein Weg gewiesen, der schliesslich zu den
Mittelalter-Ausstellungen unserer Tage führen sollte, auf
denen ein zahlreiches Publikum die europäische Weite und
den ästhetischen Glanz dieser Epoche bestaunt.
Unter dem mächtigen Impuls der Romantik waren im 19. Jahrhundert
an den meisten Universitäten Lehrstühle für die
Ältere deutsche Sprache und Literatur eingerichtet worden.
Auch in Bern bestand seit 1896 eine solche Professur, die bis
1930 Samuel Singer innehatte.
Als unsere Jubilarin Maria Bindschedler, Tochter aus einer angesehenen
Zürcher Familie, Schwester des Völkerrechtlers Rudolf
Bindschedler, bei Kriegsbeginn ihr Studium an der Universität
Zürich aufnahm, unterrichtete in Bern Helmut de Boor die
Ältere Literatur. 26 Jahre später sollte Maria Bindschedler
in der Nachfolge von Walter Henzen das Ordinariat für Germanische
Philologie am Deutschen Seminar der Universität Bern übernehmen,
wo sie zusammen mit Werner Kohlschmidt und Paul Zinsli ein weit
über Bern und die Schweiz hinaus bekanntes Germanistentrio
bildete.
Die Zürcher Studienjahre von Maria Bindschedler, die das
Fach Germanistik wegen der Vielschichtigkeit und Breite seines
Gegenstandes gewählt hatte, standen unter dem Einfluss
des alten Emil Ermatinger und des jungen Emil Staiger. Als Rudolf
Hotzenköcherle seine Schülerin wegen des Krieges nicht
zu Theodor Frings nach Leipzig schicken konnte, entschied sie
sich für einen «Auslandsaufenthalt» in Basel.
Diese Entscheidung sollte für ihre weitere Laufbahn schicksalsbestimmend
sein. Denn in Basel wirkte in der Älteren deutschen Literaturwissenschaft
eine imponierende Persönlichkeit, Friedrich Ranke aus Lübeck,
der überragende Tristanforscher, der 1937 von Breslau in
die Schweiz emigriert war, um sich nicht von seiner jüdischen
Frau trennen zu müssen.
Das geistige Fluidum, in dem sich Maria Bindschedler im Basel
jener Kriegsjahre bewegte, war auch geprägt von Wolfram
von den Steinen, dem Mediävisten aus dem Kreis um Stefan
George, und nicht zuletzt von der spirituellen Energie des jungen
Studentenseelsorgers Hans Urs von Balthasar aus Luzern, dessen
Konversionsbemühungen die reformierte Zürcherin freilich
nichts abzugewinnen vermochte. Neben dem bedeutenden Luzerner
Theologen und Ökumeniker Otto Karrer war Balthasar jedoch
ein kongenialer Gesprächspartner für die Germanistin,
deren Liebe der Mystik galt.
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Als
Forscherin und Lehrerin war Maria Bindschedler in der
damals nahezu ausschliesslich von Männern besetzten
akademischen Welt eine Ausnahmeerscheinung. |
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Forschungsschwerpunkte
In Basel bildeten sich die drei grossen Forschungsschwerpunkte
Maria Bindschedlers heraus, denen sie bis zum heutigen Tag in
luzider Kennerschaft und unverminderter Begeisterung treu geblieben
ist: der höfische Roman mit Gottfrieds «Tristan»,
die Mystik mit Meister Eckhart und Heinrich Seuse und –
Friedrich Nietzsche. Die Basler Doktorarbeit von 1945 war dem
«Granum sinapis» (Senfkorn) gewidmet, jenem mystischen
Gedicht aus dem Umfeld Meister Eckharts, das mit einem lateinischen
und deutschen Kommentar ausgestattet ist, nach den Worten des
Verfassers (in der Übersetzung Maria Bindschedlers) «an
Zahl der Worte zwar klein, aber beladen mit der Wunderkraft
der überhimmlischen Dinge». Es wurde erstmals erschlossen,
ediert, übersetzt und kommentiert von der damals 25-jährigen
Doktorandin. Das lange vergriffene Buch, das 1949 im Schwabe-Verlag
erschienen war, wurde 1985 wieder nachgedruckt.
1952 habilitierte sich Maria Bindschedler mit der Abhandlung
«Gottfried von Strassburg und die höfische Ethik»,
zu der nach dem Tode Friedrich Rankes der allmonatlich in Basel
bei Walther von Wartburg und seinem Französischen Etymo-ogischen
Wörterbuch weilende Theodor Frings aus Leipzig das Fakultätsgutachten
schrieb.
Zum Gedenken an den verstorbenen verehrten Lehrer gab sie unter
dem Titel «Gott, Welt und Humanität in der deutschen
Dichtung des Mittelalters» drei unveröffentlichte
Manuskripte Rankes heraus. Gleichzeitig arbeitete sie an einer
Monografie über «Nietz-che und die poetische Lüge»,
die 1954 erschien und 1966 vom Berliner de-Gruyter-Verlag übernommen
wurde. Ihre gründliche Kenntnis dieses schwierigen Philosophen
führte sie auch in die Stiftung Nietzsche-Haus in Sils-Maria.
Lehrverpflichtungen hatte die junge Privatdozentin nicht nur
in Basel. Sie unterrichtete auch in Besançon und, auf
Einladung Friedrich Maurers, in Freiburg im Breisgau. Mit 38
Jahren erhielt sie einen Ruf auf den Genfer Lehrstuhl und hatte
dort die deutsche Literatur in ihrer ganzen Breite zu vertreten,
vom Hildebrandslied bis zu Gottfried Benn. 1963–1964 lebte
sie in den USA, wo sie eine Gastprofessur in Berkeley wahrnahm.
Forscherin und Lehrerin
Im Jahr 1965 wurde sie auf den Berner Lehrstuhl für Germanische
Philologie berufen. Zwei Jahre später versah sie als erste
Frau der Deutschschweiz an der hiesigen Philosophisch-historischen
Fakultät das Amt des Dekans. Zuvor führte sie sieben
Jahre lang das Präsidium der Akademischen Gesellschaft
der Schweizer Germanisten. Als Forscherin und Lehrerin war Maria
Bindschedler in der damals nahezu ausschliesslich von Männern
besetzten akademischen Welt eine Ausnahmeerscheinung. Sie fühlte
sich stets von den lichten Themen jenes vergeistigten Mittelalters
angezogen, das seit den Tagen von Herder und Novalis die sensibelsten
Forscherpersönlichkeiten herausgefordert hat.
Wer einen Eindruck bekommen will von der Vielzahl ihrer Interessen,
von ihrer ebenso profunden wie unaufdringlichen Gelehrsamkeit,
von ihrer souveränen Kenntnis der literarischen und philosophischen
Traditionen und ihrer einfühlsamen, noblen Diktion, der
lese den 1985 unter dem Titel «Mittelalter und Moderne»
veröffentlichten 400-seitigen Auswahlband ihrer Schriften.
Am kommenden Montag feiert Maria Bindschedler ihren 80. Geburtstag.
Ihre zahlrei-chen Freunde, Kollegen und Schüler, die ihr
in Sympathie und Dankbarkeit verbunden sind, gratulieren ihr
von ganzem Herzen. Die guten Wünsche für die Jubilarin
darf man vielleicht in die Worte ihres geliebten Meister Eckhart
kleiden, der dem edlen Menschen als höchste irdische Reifestufe
inneren Frieden in Übereinstimmung mit sich selbst und
Ruhe im Überfluss der Weisheit verheisst, «sô
er lebet allenthalben sîn selbes in vride, stille ruowende
in rîcheit und in übernutze der obersten unsprechelîcher
wîsheit.»
*Der Autor ist Professor für Germanische Philologie
(Ältere deutsche Sprache und Literatur)
an der Universität Bern.
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