FEUILLETON

Zwischen Eleganz und Weltläufigkeit

 

GERMANISTIK/ Ein Kapitel Schweizer Universitätsgeschichte aus Anlass des achtzigsten Geburtstags von Maria Bindschedler, die an der Universität Bern wirkte und zusammen mit Werner Kohlschmidt und Paul Zinsli ein weit über unsere Landesgrenzen hinaus berühmtes und einflussreiches Germanistentrio bildete.

 

HUBERT HERKOMMER*

 


In den Wortgefechten politischer Auseinandersetzungen ist immer dann vom Mittelalter die Rede, wenn ein gegnerisches Vorhaben in Misskredit gebracht werden soll, eben als mittelalterlich und damit als altmodisch, hinterwäldlerisch oder gar reaktionär. Die so reden, sind eigentlich der Aufklärung verpflichtet, als im 18. Jahrhundert die Vorstellung vom «Finsteren Mittelalter» Hochkonjunktur hatte, spätes Erbe aus den Abrechnungen der Humanisten und Reformatoren mit mönchischem Küchenlatein, papistischer Arroganz und pfäffischer Ignoranz. «Les Lumières» hiess das damalige Gegenprogramm, Sarastro gehörte die Stunde: «Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht, / Zernichten der Heuchler erschlichene Macht.» Mit der Literatur des Mittelalters war kein Staat zu machen. Der Preussenkönig Friedrich der Grosse verweigerte die Annahme eines ihm gewidmeten Exemplars des frisch gedruckten Nibelungenliedes, weil dergleichen elendes Zeug nicht einen Schuss Pulver wert sei. Die Romantiker lösten schliesslich die Gegenbewegung aus. Herder hatte sie mit vorbereitet, als er den kränkelnden Gedanken und der philosophischen Abgespanntheit seiner Zeitgenossen den Geist der gotischen Epoche entgegensetzte: «Andacht und Ritterehre, Liebeskühnheit und Bürgerstärke – Staatsverfassung und Gesetzgebung, Religion.» Mit Novalis’ Essay «Die Christenheit oder Europa» war das Mittelalter endgültig rehabilitiert.

Bekanntes Germanistentrio
Allen späteren nationalistischen Vereinnahmungen des sträflich aufs Germanische reduzierten und antiwelsch getrimmten Mittelalters zum Trotz war nun ein Weg gewiesen, der schliesslich zu den Mittelalter-Ausstellungen unserer Tage führen sollte, auf denen ein zahlreiches Publikum die europäische Weite und den ästhetischen Glanz dieser Epoche bestaunt.
Unter dem mächtigen Impuls der Romantik waren im 19. Jahrhundert an den meisten Universitäten Lehrstühle für die Ältere deutsche Sprache und Literatur eingerichtet worden. Auch in Bern bestand seit 1896 eine solche Professur, die bis 1930 Samuel Singer innehatte.
Als unsere Jubilarin Maria Bindschedler, Tochter aus einer angesehenen Zürcher Familie, Schwester des Völkerrechtlers Rudolf Bindschedler, bei Kriegsbeginn ihr Studium an der Universität Zürich aufnahm, unterrichtete in Bern Helmut de Boor die Ältere Literatur. 26 Jahre später sollte Maria Bindschedler in der Nachfolge von Walter Henzen das Ordinariat für Germanische Philologie am Deutschen Seminar der Universität Bern übernehmen, wo sie zusammen mit Werner Kohlschmidt und Paul Zinsli ein weit über Bern und die Schweiz hinaus bekanntes Germanistentrio bildete.
Die Zürcher Studienjahre von Maria Bindschedler, die das Fach Germanistik wegen der Vielschichtigkeit und Breite seines Gegenstandes gewählt hatte, standen unter dem Einfluss des alten Emil Ermatinger und des jungen Emil Staiger. Als Rudolf Hotzenköcherle seine Schülerin wegen des Krieges nicht zu Theodor Frings nach Leipzig schicken konnte, entschied sie sich für einen «Auslandsaufenthalt» in Basel.
Diese Entscheidung sollte für ihre weitere Laufbahn schicksalsbestimmend sein. Denn in Basel wirkte in der Älteren deutschen Literaturwissenschaft eine imponierende Persönlichkeit, Friedrich Ranke aus Lübeck, der überragende Tristanforscher, der 1937 von Breslau in die Schweiz emigriert war, um sich nicht von seiner jüdischen Frau trennen zu müssen.
Das geistige Fluidum, in dem sich Maria Bindschedler im Basel jener Kriegsjahre bewegte, war auch geprägt von Wolfram von den Steinen, dem Mediävisten aus dem Kreis um Stefan George, und nicht zuletzt von der spirituellen Energie des jungen Studentenseelsorgers Hans Urs von Balthasar aus Luzern, dessen Konversionsbemühungen die reformierte Zürcherin freilich nichts abzugewinnen vermochte. Neben dem bedeutenden Luzerner Theologen und Ökumeniker Otto Karrer war Balthasar jedoch ein kongenialer Gesprächspartner für die Germanistin, deren Liebe der Mystik galt.






Als Forscherin und Lehrerin war Maria Bindschedler in der damals nahezu ausschliesslich von Männern besetzten akademischen Welt eine Ausnahmeerscheinung.
 



Forschungsschwerpunkte
In Basel bildeten sich die drei grossen Forschungsschwerpunkte Maria Bindschedlers heraus, denen sie bis zum heutigen Tag in luzider Kennerschaft und unverminderter Begeisterung treu geblieben ist: der höfische Roman mit Gottfrieds «Tristan», die Mystik mit Meister Eckhart und Heinrich Seuse und – Friedrich Nietzsche. Die Basler Doktorarbeit von 1945 war dem «Granum sinapis» (Senfkorn) gewidmet, jenem mystischen Gedicht aus dem Umfeld Meister Eckharts, das mit einem lateinischen und deutschen Kommentar ausgestattet ist, nach den Worten des Verfassers (in der Übersetzung Maria Bindschedlers) «an Zahl der Worte zwar klein, aber beladen mit der Wunderkraft der überhimmlischen Dinge». Es wurde erstmals erschlossen, ediert, übersetzt und kommentiert von der damals 25-jährigen Doktorandin. Das lange vergriffene Buch, das 1949 im Schwabe-Verlag erschienen war, wurde 1985 wieder nachgedruckt.
1952 habilitierte sich Maria Bindschedler mit der Abhandlung «Gottfried von Strassburg und die höfische Ethik», zu der nach dem Tode Friedrich Rankes der allmonatlich in Basel bei Walther von Wartburg und seinem Französischen Etymo-ogischen Wörterbuch weilende Theodor Frings aus Leipzig das Fakultätsgutachten schrieb.
Zum Gedenken an den verstorbenen verehrten Lehrer gab sie unter dem Titel «Gott, Welt und Humanität in der deutschen Dichtung des Mittelalters» drei unveröffentlichte Manuskripte Rankes heraus. Gleichzeitig arbeitete sie an einer Monografie über «Nietz-che und die poetische Lüge», die 1954 erschien und 1966 vom Berliner de-Gruyter-Verlag übernommen wurde. Ihre gründliche Kenntnis dieses schwierigen Philosophen führte sie auch in die Stiftung Nietzsche-Haus in Sils-Maria.
Lehrverpflichtungen hatte die junge Privatdozentin nicht nur in Basel. Sie unterrichtete auch in Besançon und, auf Einladung Friedrich Maurers, in Freiburg im Breisgau. Mit 38 Jahren erhielt sie einen Ruf auf den Genfer Lehrstuhl und hatte dort die deutsche Literatur in ihrer ganzen Breite zu vertreten, vom Hildebrandslied bis zu Gottfried Benn. 1963–1964 lebte sie in den USA, wo sie eine Gastprofessur in Berkeley wahrnahm.

Forscherin und Lehrerin
Im Jahr 1965 wurde sie auf den Berner Lehrstuhl für Germanische Philologie berufen. Zwei Jahre später versah sie als erste Frau der Deutschschweiz an der hiesigen Philosophisch-historischen Fakultät das Amt des Dekans. Zuvor führte sie sieben Jahre lang das Präsidium der Akademischen Gesellschaft der Schweizer Germanisten. Als Forscherin und Lehrerin war Maria Bindschedler in der damals nahezu ausschliesslich von Männern besetzten akademischen Welt eine Ausnahmeerscheinung. Sie fühlte sich stets von den lichten Themen jenes vergeistigten Mittelalters angezogen, das seit den Tagen von Herder und Novalis die sensibelsten Forscherpersönlichkeiten herausgefordert hat.
Wer einen Eindruck bekommen will von der Vielzahl ihrer Interessen, von ihrer ebenso profunden wie unaufdringlichen Gelehrsamkeit, von ihrer souveränen Kenntnis der literarischen und philosophischen Traditionen und ihrer einfühlsamen, noblen Diktion, der lese den 1985 unter dem Titel «Mittelalter und Moderne» veröffentlichten 400-seitigen Auswahlband ihrer Schriften.
Am kommenden Montag feiert Maria Bindschedler ihren 80. Geburtstag. Ihre zahlrei-chen Freunde, Kollegen und Schüler, die ihr in Sympathie und Dankbarkeit verbunden sind, gratulieren ihr von ganzem Herzen. Die guten Wünsche für die Jubilarin darf man vielleicht in die Worte ihres geliebten Meister Eckhart kleiden, der dem edlen Menschen als höchste irdische Reifestufe inneren Frieden in Übereinstimmung mit sich selbst und Ruhe im Überfluss der Weisheit verheisst, «sô er lebet allenthalben sîn selbes in vride, stille ruowende in rîcheit und in übernutze der obersten unsprechelîcher wîsheit.»



*Der Autor ist Professor für Germanische Philologie
(Ältere deutsche Sprache und Literatur)
an der Universität Bern.

 

 
H. Herkommer