Ein
Hoch auf das Latein
Fussnote
Hubert Herkommer
In
den späten sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde
der universitäre Kampf um die richtigen Bildungsinhalte mit den
verschiedensten Parolen geführt. In Hamburg begann es noch ganz
moderat mit einem Spruchband, das den zur Rektoratsfeier einziehenden
Professoren vorangetragen wurde: «Unter den Talaren Muff von 1000
Jahren».
Kurz darauf aber sprayte man, ausgehend von Berlin, auf die Universitätsmauern:
«Schlagt die Germanistik tot, macht die blaue Blume rot!»
(Die blaue Blume als Symbol der Unendlichkeitssehnsucht in der romantischen
Poesie war angebliches Lieblingsthema der sogenannten bürgerlichen
Germanistik.) «Macht kaputt, was euch kaputtmacht», hiess
die Losung für die verordnete Selbstbefreiung. Dazu passte auch
die drastische Handlungsanweisung gegenüber dem Latein: «Latinum
in latrinam» – Das Latein ins Klo! Ohne viel Federlesens
fiel man über die antike Weltsprache her und machte kurzen Prozess
mit der Literatur eines Cicero, Vergil, Horaz, Ovid oder Tacitus; die
Absage galt selbstverständlich auch dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen
Latein, das als Vatersprache Europas, wie es einmal genannt worden ist,
neben und über den romanischen, germanischen und slawischen Muttersprachen
stand. Kurzum: Das forsche Diktum aus der 68er-Bewegung erklärte
zwei Jahrtausende Dichtung, Theologie, Philosophie, Geschichtsschreibung,
Jurisprudenz, Medizin und Naturwissenschaften für nicht relevant.
Und es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass noch vor gut zwei
Jahren ausgerechnet in Basel – der einstigen Hochburg des Humanismus,
wo Erasmus von Rotterdam wirkte und wo Friedrich Nietzsche Professor
für klassische Philologie war – ein Zeitungsartikel zwar
weniger derb als die studentische Devise, doch nicht minder rigoros
in die genau gleiche Kerbe schlug: «Latein in der Schule? Das
ist schlicht verlorene Lebenszeit». Zum Beweis der erlittenen
Not hatte der Verfasser seinem Namen in Klammem beigefügt: «Sieben
Schuljahre Latein». Also doch: «Latinum in latrinam»?
Eines ist klar: Die Stimmung eines auf Effizienz und Nützlichkeit
getrimmten Zeitgeistes ist dem Latein nicht sonderlich gewogen. Und
mit Nützlichkeitsargumenten ist der alten Sprache auch nicht wieder
auf die Beine zu helfen. Es ist zwar schön und gut, wenn man die
hoch oben am Bundeshaus prangende Inschrift «Curia Confoederationis
Helveticae» sofort auf das Parlamentsgebäude der Schweizer
Eidgenossenschaft beziehen kann oder wenn man beim Lesen der Devise
«In labore virtus et vita» (In der Arbeit liegt die Tugend
und das Leben) an der Fassade eines Berner Gymnasiums sich gleich insgeheim
mit jenen beherzten Gymnasiasten solidarisiert, die aus «labore»
einmal «amore» machten. Und es ist auch kein Nachteil, wenn
einem Fremdwörter wie Adoleszenz, Senilität oder Orbitalstation
keine Angst einjagen.
Entscheidend ist etwas anderes:
Das vielstöckige europäische Haus steht (EU und Brüssel
hin oder her) auf einem Fundament, das in der Antike geschaffen, in
Renaissance und Aufklärung erneuert und gefestigt worden ist. Werden
die alten Sprachen, insbesondere das Latein, für überflüssig
erklärt, so verbaut sich die Gesellschaft den Zugang zu einer Tradition,
aus der sie über viele Jahrhunderte ihre Visionen schöpfte.
Selbstverständlich war es immer nur eine Minderheit, eine politisch-kulturelle
Elite, die sich vom Welt- und Menschenbild des lateinischen Schrifttums
inspirieren liess und die Dynamik von Bewahrung und Erneuerung in der
Gesellschaft vorantrieb.
Sogar ein mittelalterlicher Bischof konnte mit dem Latein seine Probleme
haben: Über Meinwerk von Paderborn wird erzählt, dass sein
Kaplan auf Anstiften Kaiser Heinrichs II. heimlich im Messbuch herumradierte.
Und so sang der überlistete Bischof im Gebet für das königliche
Gefolge nicht «pro famulis et famulabus» (für die Diener
und Dienerinnen), sondern «pro mulis et mulabus» (für
die Maulesel und Mauleselinnen). Der Kaiser hatte sein diebisches Vergnügen,
der später von der Kirche seliggesprochene Meinwerk war blamiert
– und der Kaplan bezog eine gehörige Tracht Prügel.
Hubert Herkommer
ist Professor für
Deutsche Literatur des Mittelalters an der
Universität Bern.