Elende Bücherwürmer

Fussnote
Hubert Herkommer

 

Was dem Naturwissenschafter das Labor, das ist dem Geisteswissenschafter die Bibliothek. Dort findet er das Wissen gespeichert, das er sich mit ständig sich wandelnden Fragestellungen erschliesst. In der reichen Landschaft der Bibliotheken gibt es aus Vergangenheit und Gegenwart architektonische Meisterleistungen. Hierzulande denkt man sofort an die barocke Stiftsbibliothek des ehemaligen Benediktinerklosters St. Gallen mit ihren wertvollen Handschriften, die bis in die Karolingerzeit zurückreichen. Über der Eingangstür des prächtigen Bibliothekssaales steht in griechischen Grossbuchstaben «Heilstätte der Seele». Diese und ähnliche Bibliotheksinschriften erinnern einen daran, dass das Buch, vor allem das in mühsamer Handarbeit erstellte, einstmals etwas Kostbares, Ehrfurchtgebietendes war.
Die Bücher hatten immer ihre besonderen Feinde. Lassen wir einmal Kriege, Feuersbrünste oder Überschwemmungen beiseite, die zum jähen Buchtod führten. Auch wollen wir nicht an die zahlreichen Insekten denken, die das Buch auf der Speisekarte haben, allen voran der Bücherwurm aus der Familie der Klopf-, Nage- oder Pochkäfer, den der Insektenforscher bei seinem possierlichen Namen Ptilinus pectinicornis, gekämmter Nagekäfer, ruft.
Nein, unser Bücherwurm gehört zur Spezies des Homo sapiens, des einsichtigen Menschen, der schon seit 80 000 Jahren unseren Planeten heimsucht.
Eine erste, weit verbreitete Untergruppe dieser Bücherwürmer sind die Bücherdiebe. Wer stand nicht schon ohnmächtig vor einer Lücke im Regal, um dann festzustellen, dass das gesuchte Buch schon seit Jahren ohne Leihschein verschwunden ist? Manche dieser veruntreuten Bücher kehren nie mehr an ihren Standort zurück und müssen nachgekauft werden, vorausgesetzt, sie sind überhaupt noch erhältlich.
Schon die alten Schreiber verfluchten die Bücherdiebe. Häufig hinterliessen sie entsprechende Drohungen in ihren kalligraphischen Produkten und wünschten dem Sünder die Pest oder die Krätze an den Hals oder denselbigen gleich an den Galgen. «Wer das puech stel / desselben chel / muzze sich ertoben / hoch an eim galgen oben», heisst zum Beispiel ein solcher Spruch. Nicht von ungefähr ketteten die Klosterbibliothekare viele Bücher einfach an. Es gibt jedoch eine Form des modernen Bücherdiebstahls, gegen die auch alle Ketten machtlos wären.
Diese besonders heimtückische Variante, gewissermassen die Untat eines Buchraubmörders, lässt einen beim Griff ins Regal verdutzt feststellen, dass man – potztausend! – nur noch den blossen Einbanddeckel in Händen hält, weil der Buchkörper herausgerissen wurde. Und wer kennt nicht die armen Zeitschriftenbände und Enzyklopädien, aus denen dieser oder jener Artikel rasierklingenscharf herausoperiert worden ist?

Eine zweite Untergruppe unserer Bücherwürmer, ebenfalls häufig anzutreffen, sind die Wurstigen. Der englische Bischof und Bücherliebhaber Richard de Bury hat schon im 14. Jahrhundert ein solches Wesen aufs Korn genommen: «Seine Fingernägel sind voll Schmutz, schwarz wie Pechkohle, und damit merkt er eine ihm behagende Stelle im Buch an. Der Bursche schämt sich nicht, Obst und Käse über dem offenen Buch zu essen oder sein Glas einmal über die eine, dann über die andere Seite spazieren zu lassen und, da er seine Brottasche nicht zur Hand hat, die Überreste seiner Mahlzeit im Buch liegenzulassen.» Typisch finsteres Mittelalter, wird man denken.
Doch dazu gibt es durchaus moderne Parallelen: So etwa, wenn eine Studentin ihr mit Kaffee übergossenes Institutsexemplar zurückbringt und sich treuherzig mit dem Hinweis auf die Katze entschuldigt, die ihre auf dem Schreibtisch stehende Kaffeetasse umgestossen habe.
Oder wenn ein Student ein ausgeliehenes Buch wieder abliefert, das aussieht, als sei die Aare darüber hinweggeflossen; es war aber nur die Badewanne, in die das Buch hineinrutschte, als der junge Mann dort bei seiner Lektüre einschlief. Da verzeiht man doch viel lieber der kleinen Hausmaus, die einmal hinter den Regalen einer Privatbibliothek herumturnte und dabei instinktsicher den heiligen Tierfreund Franz von Assisi anknabberte.

Hubert Herkommer ist Professor für
Deutsche Literatur des Mittelalters an
der Universität Bern.

 
H. Herkommer