Antidepressivum Wein

Fussnote
Hubert Herkommer


Die Depression führt mit Abstand die Liste der Volkskrankheiten an. Quer durch alle Lebensalter, Schichten und Berufe hindurch leiden 10% der europäischen Bevölkerung an dieser schweren Krankheit, doppelt so viele Frauen wie Männer. In 15% der Fälle verläuft sie tödlich – durch Selbstmord.
Damit übertrifft sie als Todesursache den Strassenverkehr. Buchmarkt, Presse, Rundfunk und Fernsehen klären über die körperlich-seelischen Kennzeichen der Depression auf und versprechen bei sachgerechter Behandlung Heilung oder zumindest Linderung. Selbsttests zur Überprüfung des eigenen Befindens lassen den Weg zum Arzt geraten erscheinen, wenn dunkle Seelenzustände kürzere oder längere Schatten auf ein normales Leben werfen: Niedergeschlagenheit, Schwunglosigkeit, bleierne Müdigkeit und innere Unruhe, fehlendes Selbstvertrauen, Grübeln und Schuldgefühle, Schlaf- und Appetitlosigkeit, Verzweiflung und Todesgedanken. Viele Beobachter sind überzeugt, dass die Zahl der Erkrankungen seit einigen Jahrzehnten stetig zunimmt. Die wachsenden Überforderungen der modernen Zivilisation gelten als eine der Hauptursachen dafür. Es sind Überforderungen durch die Ungewissheiten im privaten und gesellschaftlichen Leben, durch die Beschleunigung der Arbeitsabläufe oder durch die Reiz- und Informationsüberflutung.
Die Depression, in früheren Zeiten auch Melancholie geheissen, ist so alt wie die Menschheit. Der älteste namentlich bekannte Depressive, der Grieche Bellerophontes, begegnet uns vor fast 3000 Jahren in der «Ilias» des Homer. Der Held stürzt plötzlich auf dem Höhepunkt seiner Karriere ab, als er unvermittelt an sich die Heimsuchung der Götter erfährt: «Als nun aber auch jener den Himmlischen allen verhasst ward, / Irrte er einsam umher, das Herz in Kummer verzehrend, / Durch die aleïsche Flur und mied die Pfade der Menschen.» Die antike Medizin hat sich eingehend mit der Melancholie beschäftigt. So schreibt der berühmte Hippokrates (um 460 bis um 370 v. Chr.): «Niedergeschlagenheit, eine schwierige Krankheit: Dem Kranken kommt es vor, als hätte er in seinen Eingeweiden einen stechenden Dorn; tiefe Beklemmung quält ihn; er flieht das Licht und die Menschen, bevorzugt die Dunkelheit; er ist der Angst unterworfen.»
Als eine Kapazität in Sachen Melancholie galt der Arzt Rufus von Ephesus (um 100 n. Chr.). Nach ihm lässt sich an den Symptomen von Furchtsamkeit, Zögerlichkeit und Grübelei, am ständigen Reden vom Tod und am Rückzug aus dem sozialen Leben in die Einsamkeit der Ausbruch einer Melancholie erkennen, die nach seiner Erfahrung mehr die Männer als die Frauen befällt. Massvoll genossener Wein erscheint ihm als das ideale Heilmittel. Denn nur der Wein enthält alle Substanzen, die der Melancholiker für seine Genesung braucht. Noch der evangelische Theologe Simon Musäus (1529–1576) sieht das genauso.
In seinem Katalog «Köstliche Arznei und Rezept wider die grausame Seuche der Melancholie aus der Apothek des Heiligen Geistes» empfiehlt er neben der Musik und einem freundlichen Gespräch nachdrücklich den Wein als Arznei: «Darnach hat Gott auch wider die Melancholie den mässigen Gebrauch des Weins verordnet, wie David im 104. Psalm sagt: Der Wein erfreut des Menschen Herz. Ferner Proverbia 13: Gebt Wein den betrübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken.»

Die Depressionen haben noch jede Epoche überdauert. Der Wein steht allerdings heute nicht mehr auf den Rezepten der Ärzte. Vielleicht setzt man aber im Stillen weiterhin auf seine vormals hoch geschätzte Wirkung. Ganze Heerscharen nämlich glauben, sie seien nicht auf eine professionelle Hilfe angewiesen, da sie doch in andauernder Selbstmedikation ein Gläschen trinken.
Sie tun dies freilich nicht massvoll, wie vom Arzt Rufus oder vom Theologen Musäus verschrieben,sondern trinken immer öfter eins über den Durst. Dabei erreichen sie jedoch, wie schon die alten Griechen wussten, genau das, was sie vermeiden wollten: ein Übermass an Melancholie.

Hubert Herkomrner ist Professor
für deutsche Literatur des Mittelalters
an der Universität Bern.

 
H. Herkommer