Bildungsnot

Fussnote
Hubert Herkommer

 

Zu den Aufgaben des Lehrpersonals unserer Hochschulen gehört auch die Mitwirkung an den Abschlussprüfungen der Gymnasien. Hier werden die schriftlichen Arbeiten gegengelesen und die mündlichen Prüfungen begleitet, mit dem Ziel, zu möglichst objektiven Resultaten zu gelangen. Kantonaler Maturitätsexperte zu sein ist ein ebenso verantwortungsvolles wie erlebnisreiches Geschäft. Schliesslich begegnet die Universität hier ihren künftigen Studierenden. Man freut sich mit den Wissenden, leidet mit den Suchenden oder stockt mit den Vergesslichen. Man wünscht sich diese eine Maturandin unbedingt unter die Erstsemester des eigenen Faches und hofft insgeheim, jener andere möge doch alles studieren, bloss nicht das Fach Deutsch.
Lehrer und Experte machen da zuweilen die buntesten Erfahrungen mit schülerischen Überlebensstrategien. So schluckt man noch trocken, wenn ein Kandidat bei der Frage nach der zeitlichen Einordnung von Heines berühmtem Webergedicht dieses irgendwie im 19. Jahrhundert unterbringt, dann aber mit Bestimmtheit noch als engere Eingrenzung hinterherschickt, es sei jedenfalls kurz nach dem Dreissigjährigen Krieg gewesen. Mitunter kann es einem aber ganz schön die Sprache verschlagen. Einmal wollte der prüfende Lehrer zum Ende der Diskussion über einen Weltbestseller von 1985 noch gerne den Punkt aufs i setzen. Seine Frage galt dem Namen des parfumbesessenen mörderischen Helden Jean-Baptiste Grenouille. Sie war keinesfalls abwegig; schliesslich bemühen sich unsere Schriftsteller seit je, ihren Figuren möglichst bedeutungsträchtige Namen zu geben. Nomen est omen! Im Gralsroman ist Perceval oder Parzival wörtlich einer, der das Tal durchdringen soll; seine Gemahlin Condwiramurs heisst übersetzt «Geleit der Liebe». Aber wie mochte die Lektion von Patrick Süskinds Kreatur lauten? Beim sprechenden Namen Grenouille war man sich angesichts der klaren Aussagen des Romans über das ekelerregende Kind des monströsen Fischweibs schnell handelseinig. Beim noblen Vornamen aber ging alles daneben: «Jean heisst Hans.» «Man könnte vielleicht auch Johannes sagen», präzisierte der wohlwollende Lehrer, sein angesteuertes Deutungsziel fest im Auge. «Und Baptiste?» Betretenes Schweigen. Der Experte versuchte eine auflockernde Assoziation über die italienischen Baptisterien, die Taufkapellen von Florenz oder anderswo. «Klar», kam es erleichtert zurück. Dort sei ja schliesslich auch der Papst zu Hause. Nach dieser abenteuerlichen Verwechslung empfahl es sich, das Rätsel sofort aufzulösen: «Jean-Baptiste heisst Johannes der Täufer.» Das Eis war gebrochen und die Prüfenden durften sich folgenden Kormnentar anhören: «Ja richtig, der Grenouille ist ja auch ein Teufel!» Nach diesem zweiten Verhörer erschien es aussichtslos, den genialisch-messianischen Anspruch der Aussenseiterfigur auf der Folie ihres asketisch-prophetischen Namensvetters aus dem Neuen Testament zu ergründen und auch so die widersprüchlichen Facetten der schillernden Persönlichkeit auszuloten.

Das Vorkommnis im Schulzimmer, ein Sonderfall? Keineswegs. An einem anderen Gymnasium reagierte ein Maturand auf die nebenbei gestellte Frage, wen Judas eigentlich verraten habe, mit einem lakonischen: «Da muss ich passen.» Wir werden uns wohl darauf einstellen müssen: Das einstmals blühende kollektive Gedächtnis in Sachen Traditionswissen weist an allen Ecken und Enden Austrocknungserschei-nungen auf. In einer erfolgreichen und viel kopierten Quizshow kann man zurzeit mit mehr Verstand als Glück über 15 richtig beantwortete Fragen eine Million gewinnen. Die Produzenten dieser Sendung werden in Zukunft ehemalige Selbstverständlichkeiten aus den Einstiegsfragen herausnehmen und risikolos in höhere Geldregionen verlegen dürfen. An welcher Aufgabenstellung wäre dort doch unlängst jemand ohne gewaltige Mithilfe des Moderators ganz früh gescheitert: «Wie nennt man den westlichen Kulturkreis? A. Morgenland. B. Mittagland. C. Abendland. D. Nachtland.» Gute Nacht, Abendland!

Hubert Herkommer ist Professor für
Deutsche Literatur des Mittelalters an
der Universität Bern.

 
H. Herkommer