Die Wissenschaft von der Älteren
deutschen Sprache und Literatur

 

Hubert Herkommer

 


Schweizer Ouvertüre zu einer neuen Universitätsdisziplin

Man schrieb das Jahr 1782. Lessing, der grosse Dichter und Kritiker der deutschen Aufklärung, war im Jahr zuvor gestorben und Mannheim erlebte den Paukenschlag von Schillers Erstlingsdrama “Die Räuber“, während Herder mit seinem Buch “Vom Geist der ebräischen Poesie“ die Ästhetik der Bibel ausleuchtete und in Wien Mozarts Türkenoper “Die Entführung aus dem Serail“ Grossmut und Versöhnung ex Oriente besang. In eben diesem Jahr 1782 kam auch – bemerkenswerte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen! – die erste vollständige Ausgabe des Nibelungenliedes auf den Markt, jenes damals bereits rund 600 Lenze alten mittelhochdeutschen Heldenroman-Klassikers aus dem bairisch-österreichischen Sprach- und Kulturraum. Herausgeber war der aus Zürich stammende Berliner Gymnasialprofessor Christoph Heinrich Myller (1740–1807), der, von Johann Jakob Bodmers Mittelalterbegeisterung und Entdeckerlust angesteckt – Bodmer selbst hatte 25 Jahre zuvor rnit “Chriemhilden Rache“ schon mal das letzte Drittel des Werkes präsentiert –, gleich zwei Handschriften aus der gräflichen Bibliothek auf Burg Hohenems ahnungslos zu einer Edition zusammenmontierte und dabei noch so naiv war, “Der Nibelungen Liet“, dieses “Rittergedicht aus dem XIII. oder XIV. Jahrhundert“, Friedrich dem Grossen zu widmen. Der den Ideen der Aufklärung und ihren französischen Repräsentanten eng verbundene Preussenkönig hatte kein Organ für das höfisch eingefärbte, germanisch-völkerwanderungsgetönte Karussell von HeIdentat, Meuchelmord und Untergang um Sîfrit, Prünhilt, Gunther, Hagen, Kriemhild und Etzel. Er reagierte schroff und schrieb an den Schweizer Mittelalterfan:

“Ihr urteilet viel zu vorteilhaft von denen Gedichten aus dem zwölften, dreizehnten und vierzehnten Saekulo, deren Druck Ihr befördert habet und zur Bereicherung der deutschen Sprache so fruchtbar haltet. Meiner Einsicht nach sind solche nicht einen Schuss Pulver wert und verdienten nicht aus dem Staube der Vergessenheit gezogen zu werden. In meiner Büchersammlung wenigstens würde ich dergleichen elendes Zeug nicht dulden, sondern herausschmeissen.“

Doch was man in Potsdam für “elendes Zeug“ hielt, beflügelte in Zürich den antiquarisch-literarischen Sinn für das neuentdeckte Mittelalter. Neben dem Nibelungenlied, das man in patriotischem Bildungsstolz an Homers “Ilias“ Mass nehmen liess, galt das besondere Interesse Johann Jakob Bodmers (1698–1783) und seines Freundes Johann Jakob Breitinger (1701–1776) einer grossformatigen, reichhaltig bebilderten Liederhandschrift, die in der Limmat-Stadt um 1304 entstanden war und vom staufischen Minnesänger-Kaiser Heinrich VI. prachtvoll eröffnet wurde. An deren Zustandekommen sah man nach dem literarischen Zeugnis des Zürcher Minnesängers Johannes Hadlaub die Zürcher Herren Manesse beteiligt – Gottfried Keller hat 1878 in seiner “Hadlaub“-Novelle diesem kulturellen Milieu ein literarisches Gesicht gegeben. Die daher von Bodmer unbekümmert “Manessische Sammlung“ getaufte Handschrift – im 20. Jahrhundert glaubte man in ihr sogar den königlichen Abglanz einer verlorenen staufischen Liedersammlung zu erblicken – gelangte im 16. Jahrhundert in die Kur-pfälzische Schlossbibliothek zu Heidelberg, verschwand von dort während des Dreissigjährigen Krieges und kam 1657 in die Königliche Bibliothek nach Paris. Von dort wurde der Codex Manesse nach Zürich an die beiden Mittelalterenthusiasten Bodmer und Breitinger ausgeliehen, die sich in die kostbare, 426blättrige Zimelie mit ihren 138 Dichterbildnissen vertiefen durften, dabei Abschriften anfertigten und sogar nach den Originalminiaturen ungeniert Durchzeichnungen(!) vornahmen. Normalen Sterblichen öffnen sich heute nur noch die beiden Faksimile-Editionen des Codex Manesse aus den Jahren 1925–1927 und 1974–1979. Die beiden gelehrten Liebhaber der altdeutschen Poesie publizierten 1758/1759 die zweibändige “Sammlung von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte“, nachdem sie bereits 1748 einen Auswahlband unter dem Titel “Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Manessischen Sammlung“ herausgegeben hatten.

 

Der Flügelschlag der deutschen Romantik

An der Wiege der älteren deutschen Literaturwissenschaft stand aber nicht nur Bodmer, den man den “Vater der Minnesangforschung“ genannt hat, sondern auch – auf Bodmers Schultern – der Romantiker Ludwig Tieck (1773–1853) mit seiner Anthologie “Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter“, erschienen in Berlin 1803. Tiecks Hochschätzung der Manessischen Texte entsprang seinem Gespür für die Sprachartistik, den Formenreichtum und die Musikalität dieser Lyrik: “Kein Gedanke, kein Ausdruck ist gesucht, jedes Wort steht nur um seiner selbst willen da, aus eigener Lust, und die höchste Künstlichkeit und Zier zeigt sich am liebsten als Unbefangenheit oder kindlicher Scherz mit den Tönen und Reimen.“
Diese neue ästhetische Sensibilität verband sich bei Tieck mit einem komparatistischen Blick auf die europäische Vernetztheit der altdeutschen Literatur: “Bei den Provenzalen und Franzosen finden wir zuerst die Gedichte von Artus, welche die deutschen Minnesänger bald darauf übertrugen und nachahmten. Diese Zeit, in welcher alle jene Erzählungen vom Parzival, Titurel, Tristan, Artus, Daniel von Blumenthal und andere gehören, ist die eigentliche Blütezeit der romantischen Poesie.“ Und so schien auf eine widrige Gegenwart der Goldglanz eines verklärten Mittelalters: “Gläubige sangen vom Glauben und seinen Wundern, Liebende von der Liebe, Ritter beschrieben ritterliche Thaten und Kämpfe, und liebende gläubige Ritter waren ihre vorzüglichen Zuhörer.“

Einen Friedrich Schiller (1759–1805) konnte dieses am Minnesang sich entzündende schwärmerische Plädoyer der Romantik für das innige Zusammenspiel von Gemüt, Poesie und Religion nicht erwärmen: “Welch eine Armut von Ideen, die diesen Minneliedern zum Grunde liegt! Ein Garten, ein Baum, eine Hecke, ein Wald, und ein Liebchen; ganz recht! das sind ungefähr die Gegenstände alle, die in dem Kopfe eines Sperlinges Platz haben. Und die Blumen die duften, und die Früchte die reifen, und ein Zweig worauf der Vogel im Sonnenschein sitzt und singt, und der Frühling der kommt, und der Winter der geht, und nichts was dableibt – als die Langeweile.“

Zwanzig Jahre aber nach Schillers sarkastischem Verdikt lässt Goethe, von Tiecks Ausgabe inspiriert, im Helena-Akt seines Faust II den sehnsüchtig spähenden Turmwärter Lynkeus, “hingegeben / Dieser gottgegebenen Frauen“ (V. 9221), der antiken Schönheit in Übernahme von Reimen und Reimwörtern aus den Liedern Heinrichs von Morungen, des Augenmenschen unter den Minnesängern, mittelalterlich huldigen. Für den alten Goethe gehörte diese Poesie inzwischen zur Weltliteratur.

 

Der Zugriff der Klassischen Philologie

Die mittelhochdeutsche Dichtung war zum Bildungsbesitz von gelehrten Liebhabern geworden. Der nobilitierte Gegenstand harrte nun seiner wissenschaftlichen Erschliessung durch die Experten. Sie rekrutierten sich aus der Klassischen Philologie. Diese wissenschaftliche “Grossmacht ersten Ranges“ (Erich Rothacker) hatte es im Umgang mit mehrfach überlieferten Texten ein und desselben Autors zur Perfektion gebracht; sie verstand es, über die sprachgeschichtlich-grammatische und metrische Würdigung ein mutmassliches Original in seinem Verhältnis zu zeitlich oft beträchtlich auseinanderliegenden Abschriften so zu analysieren, dass aus den vielen Zeugnissen ein möglichst authentischer, ursprungsnaher Text, unter günstigen Bedingungen der Archetypus der handschriftlichen Überlieferung, rekonstruiert werden konnte.

Die Fachwelt liess keinen Zweifel daran, dass man die umschwärmte sogenannte “vaterlän-dische Literatur“ nicht länger kenntnislosen Dilettanten überlassen dürfe, sondern sie nach den gleichen strengen Prinzipien der Textkritik zu bewerten und zu edieren habe wie das bei den griechischen und lateinischen Klassikern geschah. Eine überragende Gelehrtengestalt auf dem Feld der dringlich gewordenen philologisch-professionellen Durchdringung der älteren deutschen Literatur war Karl Lachmann (1793–1851), der nach dem Studium in Leipzig und Göttingen sich dort 1815 in der Klassischen Philologie habilitierte und zu seiner Habilitation in Berlin 1816 nicht nur die Ausgabe des “Properz“ (Leipzig 1816), sondern auch noch die “Untersuchung über die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes von der Nibelunge Not“ (Berlin 1816) vorlegte. Es ist besonders Lachmanns Verdienst, dass die neue, noch ganz in ihren Anfängen steckende Deutsche Philologie als Deutsche Altertumswissenschaft ihren Anteil erhielt am Renommee und an der Methodenschärfe der ehrwürdigen Klassischen Altertumswissenschaft.

Noch bis zum heutigen Tage zehrt die Mittelaltergermanistik von Lachmanns grossen kritischen Editionen: Der Nibelunge Noth mit der Klage (Berlin 1826); Hartmann von Aue, Iwein (Berlin 1827, zusammen mit seinem Göttinger Lehrer Georg Friedrich Benecke); Walther von der Vogelweide (Berlin 1827, 2. Ausgabe 1843: “Ludwig Uhland zum Dank für Deutsche Gesinnung Poesie und Forschung gewidmet“); Wolfram von Eschenbach (Berlin 1833); Des Minnesangs Frühling (Leipzig 1857, nach Lachmanns Tod von seinem Schüler Moriz Haupt herausgegeben). Später widmete der Braunschweiger Pfarrersohn noch seine ganze Kraft der zweibändigen Ausgabe des “Novum testamentum graece et latine“ (Berlin 1842–1850).

So sind es vor allem das Nibelungenlied als wiederentdecktes deutsches Nationalepos und innerhalb des Minnesangs besonders Walther von der Vogelweide, die für viele Generationen zum Dauerbrenner im universitären Wissenschaftsbetrieb der Deutschen Philologie und ihrer dem Mittelalter zugewandten Unterabteilung werden. Dieser Zweig des Faches, früher mit Vorliebe Altgermanistik genannt, wurde in Abgrenzung zur Klassischen, Romanischen oder Englischen Philologie auch als Germanische Philologie bezeichnet und trägt heutzutage zunehmend den Titel Germanistische Mediävistik. Im Lehrplan des gymnasialen Deutschunterrichts war die Lektüre mittelhochdeutscher Dichtungen während des 19. Jahrhunderts und bis weit ins 20. Jahrhundert Pflicht. Das Rüstzeug dafür sollten die kommenden Deutschlehrer im Rahmen ihres Germanistikstudiums erwerben: “Uns ist in alten maeren wunders vi! geseit / von helden lobebaeren, von grôzer arebeit, / von fröuden, hochgezîten, von weinen und von klagen, / von küener recken strîten muget ir nu wunder hoeren sagen“ (“In alten Geschichten wird uns vieles Wunderbare berichtet: von ruhmreichen Helden, von hartem Streit, von glücklichen Tagen und Festen, von Schmerz und Klage, vom Kampf tapferer Recken: Davon könnt auch Ihr jetzt Wunderbares berichten hören“). Und dem Preislied Walthers von der Vogelweide “Ir sult sprechen willekomen“ entlockte man im Unterricht zur Heranbildung einer strammen Gesinnung nationale Töne eines “Deutschland über alles“: “Von der Elbe unz an den Rîn / und her wider unz an Ungerlant / Mugen wol die besten sîn, / die ich in der werlte hân erkant. ... // Tiusche man sint wol gezogen, / rehte als engel sint diu wîp getân“ (“Von der Elbe bis zum Rhein und wieder hierher bis an Ungarns Grenze, da leben gewiss die Besten, die ich je fand in der Welt. … Deutsche Männer sind wohlgebildet, und recht wie die Engel sehen die Frauen aus“).

Wie viele andere Universitätsdisziplinen besitzt auch die Altgermanistik seit ihren Anfängen eine fatale Tendenz, sich dem jeweils regierenden Zeitgeist in die Arme zu werfen, sei dieser nur modisch drapiert oder auch, weniger harmlos, totalitär gepanzert. Die prinzipielle Offenheit der Texte für Sinnzuweisungen unterschiedlichster Provenienz birgt bei mangelnder methodischer Präzision und bei einer (absichtlichen?) Blindheit für die Einmaligkeit, Unverwechselbarkeit und Unwiederholbarkeit historischer Erschei-nungen die Gefahr, dass die Literatur zu politischen Zwecken missbraucht wird. Der absolute Tiefpunkt war hier erreicht, als Göring in seiner Rede vom 30. Januar 1943 in blankem Zynismus zum Untergang der Stalingrad-Armee folgende Parallele zog: “Wir kennen ein gewaltiges Heldenepos von einem Kampf ohnegleichen, es heisst ‚Der Kampf der Nibelungen’. Auch sie standen in einer Halle voll Feuer und Brand, löschten den Durst mit dem eigenen Blut, aber sie kämpften bis zum letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und noch in tausend Jahren wird jeder Deutsche mit heiligem Schauer von diesem Kampf in Ehrfurcht sprechen und sich erinnern, dass dort trotz allem Deutschlands Sieg entschieden worden ist.“

 

Das Mittelalter als Medienereignis und die Verantwortung der Wissenschaft

In den letzten Jahrzehnten hat ein lebendiges kulturgeschichtliches Interesse den Facettenreichtum des Mittelalters in seiner ganzen Differenziertheit ausgelotet. Es wurde in der Öffentlichkeit durch grosse Ausstellungen begleitet. Als Baden-Württemberg 1977 sein 25jähriges Bestehen feierte, fragte man sich in Stuttgart, wie denn die Vorfahren im 12. und 13. Jahrhundert lebten. Und schon war der Bogen geschlagen zur glanzvollen Epoche der staufischen Könige und Kaiser, deren Hausmacht im Herzogtum Schwaben lag. Die monumentale Staufer-Ausstellung suggerierte eine besondere Kontinuität zwischen dem Land Baden-Württemberg mit seinen zahlreichen Stauferorten und dem Heiligen Römischen Reich. Selbstverständlich befanden sich unter den erlesenen Ausstellungsgegenständen auch das Nibelungenlied, das Rolandslied, Wolframs Parzival und “die Handschriften mit der deutschsprachigen Lyrik der Stauferzeit“, darunter der Codex Manesse. Im selben Jahr beschloss der Freistaat Bayern, sich 1980 seiner eigenen glanzvollen Vergangenheit zu erinnern, und zwar aus Anlass der 800 Jahre zurückliegenden Belehnung des Pfalzgrafen Otto von Wittelsbach mit dem bayerischen Herzogtum, das Kaiser Friedrich Barbarossa zuvor dem geächteten Welfenherzog Heinrich dem Löwen aberkannt hatte. Schirmherren dieser Ausstellung waren der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauss und Seine Königliche Hoheit Herzog Albrecht von Bayern. Das Kapitel “Deutsche Literatur des 13. und 14. Jahrhunderts im Umkreis der Wittelsbacher“ war mit einem Dichtervers aus der Manessischen Liederhandschrift überschrieben: “Ahi, wie werdiclichen stat der hof in Peierlande!“ Nach dem staufischen Baden-Württemberg und dem wittelsbachischen Bayern wollte auch das welfische Niedersachsen seine Mittelalter-Ausstellung haben. Einen Anlass dafür bot das Jahr 1995 mit dem 800. Todestag Herzog Heinrichs des Löwen. Im Ausstellungskatalog ist ein eigener Essay der deutschen Literatur am Welfenhof gewidmet.

Bei diesen der historischen Selbstvergewisserung dreier Bundesländer dienenden Ausstellungen waren die Beiträge der Mediävisten germanistischer Provenienz gefragt. Dies galt auch und besonders bei Ausstellungen, die einem einzelnen literarischen Monument gewidmet waren. 130 Jahre nach Bodmers Beschäftigung mit der aus der Königlichen Bibliothek zu Paris nach Zürich ausgeliehenen Manessischen Lieder-handschrift war die in den Rang eines nationalen DenkmaIs erhobene Minnesinger-Handschrift nach langwierigen Verhandlungen nach Heidelberg zurückgekehrt. Das 100jährige Jubiläum ihrer Rückgewinnung beging die Universitätsbibliothek Heidelberg 1988 in einer grossen Ausstellung; und 1991 zeigte sich sogar der Codex aus Anlass der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft drei Monate lang in seiner mittelalterlichen Geburtsstadt Zürich: “Habent sua fata libelli“ (Terentianus Maurus), nach Goethe: “Auch Bücher haben ihr Erlebtes.“ Beide Anlässe boten der Mediävistik eine willkommene Gelegenheit zu erneuter und vertiefter Grundlagenforschung um den Codex Manesse. Auch die dem Nibelungenlied und seiner Zeit gewidmete Karlsruher Ausstel-lung von 2003/2004 mit ihrem reichen Begleitprogramm dokumentierte die Verantwortung der Wissenschaft gegenüber einer wissbegierigen Öffentlichkeit und ihren diffusen Mittelalterbildern.

Die diesjährige, auf zwei Orte verteilte Ausstellung “Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern“ (Essen: Die frühen Klöster und Stifte, 500–1200; Bonn: Die Zeit der Orden, 1200–1500) führte eindringlich vor Augen, wie weit sich die germanistische Mediävistik von den aus ihrer Geschichte ererbten profanen Themen und Fragen entfernt hat. Integriert in ihre architektur- und kunstgeschichtlichen, historischen, liturgie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Nachbardisziplinen leistet sie ihren unverwechselbaren Beitrag bei der Untersuchung der mystischen Textzeugnisse. Längst hat sie verstanden, dass die Literatur auch des deutschen Mittelalters nur aus einer gesamteuropäischen Perspektive angemessen verstanden werden kann und dass sie sogar bei einem ihrer ureigensten Themen wie dem “Parzival“ Wolframs von Eschenbach ohne das Gespräch mit der Theologie, Religionswissenschaft und Ethnologie zu kurz greift. Denn ein Verzicht auf den interdisziplinären Dialog würde nicht nur den Zauber und die Rätselhaftigkeit dieses zwischen Orient und Okzident ein-gebetteten Gralsromanes verfehlen, sondern auch den heutigen Interpreten seiner eigenen Zeitgenossenschaft berauben.

Bei allem Reichtum berauschender lnterpretationsideen ist die germanistische Medävistik in all ihren Spielarten und Spezialisierungen immer gut beraten, ihrer philologischen Ursprünge eingedenk zu bleiben. Friedrich Nietzsche hat 1886 das Ethos der Philologie in hinreissenden Worten charakterisiert, die nichts von ihrer Aktualität eingebüsst haben: “Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem eins heischt, beiseite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nötiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der “Arbeit“,will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem gleich “fertig werden“ will, auch mit jedem alten und neuen Buche.“

 

Die Bandbreite einer opulenten Disziplin

Traditionellerweise umfasst die germanistische Mediävistik den Zeitraum vom 8. bis ins 16. Jahrhundert mit seinen althochdeutschen, mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Texten. Eine hochspezialisierte Forschung hat riesige und faszinierende Gebiete erschlossen. Hier wäre vieles zu nennen:
• Wer möchte nicht die Leistung der beiden grossen karolingischen Bibelepiker würdigen, des Benediktinermönches Otfrid aus dem südrheinfränkischen Weissenburg, der, inspiriert durch die spätantiken Bibeldichter Juvencus, Arator und Prudentius, die Evangelien in volkssprachliche Endreime giesst, nacherzählt und nach ihrem mehrfachen Schriftsinn auslegt, und des anonymen “Heliand“-Autors, der sich für die poetische Ausgestaltung seiner Evangelienharmonie des altgermanischen Stabreimverses bedient.
• Welche Schätze birgt die volkssprachliche chronikalische Literatur der Epoche, die das in Augustins “Gottestaat“ entfaltete moralische, die Institutionen von Kirche und Reich unterlaufende Modell der Gottes- und Weltbürgerschaft verbreitet und die heilsgeschichtliche Periodisierung nach der Abfolge von sechs Weltaltern mit ihren Leitfiguren Adam, Noe, Abraham, Moses, David und Christus tradiert.
• Und wie könnte man die Höhepunkte der Weltliteratur vergessen, die eine ritterliche Laienkultur mit ihren Romanen geschaffen hat: Während das Nibelungenlied in einem Massaker endet, weil die Macht und die Legitimität nicht in derselben Person vereinigt sind, zeichnen Artus- und Gralsepen Heldenfiguren, die nach leidvollem Scheitern ihre existentielle Krise überwinden und zu einem neuen Weg der Verantwortung in der Gesellschaft finden.
• Zu welch sprachmusikalischer Virtuosität schwingt sich Gottfried von Strassburg in seinem Tristanroman auf, als er aus einem ehebrecherischen Paar ob dessen reiner, dem Leid verschwisterten Liebesgesinnung zwei Minneheilige macht. Und so könnte man fortfahren, bis hin zur rhetorischen Meisterschaft eines Johannes von TepI, der in seinem frühhumanistischen Dialog zwischen dem Ackermann aus Böhmen und dem Tod erschütternde Bilder für die Conditio humana entwirft.
Als vor zwei Jahren der britische Bildungsminister Charles Clarke bemerkte, gegen ein paar Mediävisten als schmückendes Beiwerk sei nichts einzuwenden, aber es gebe für den Staat keinen Grund, sie zu fördern, wurde er vom Präsidenten der Royal Historical Society, dem Mediävisten Jinty Nelson, als “kulturloser Rowdy“ bezeichnet. Sollte eines Tages jemand in oder ausserhalb der Universität einschlägigen Sparmassnahmen das Wort reden wollen, sei er schon heute mit diesem Titel bedacht.

 
H. Herkommer