Abenteuer Mönchstugend

Fussnote
Hubert Herkommer


Verteilt auf die Kontinente, lebt heute noch eine Bevölkerung von der Grösse einer mittleren Kleinstadt nach einer Norm, die 1500 Jahre alt ist. Diese 26 000 Männer und Frauen organisieren ihren gemeinschaftlichen Alltag nach der Ordensregel des Benedikt von Nursia. Im Mittelalter war ganz Europa übersät von benediktinischen Klöstern. Durch die Jahrhunderte hindurch tragen diese Orte klingende Namen: Monte Cassino, Saint-Denis und Cluny, die Reichenau oder Fulda, St. Gallen, Einsiedeln oder Müstair. Von hier aus sind weite Bereiche unserer Kultur geprägt worden. Grund genug, die wirkmächtige Schrift aus dem 6. Jahrhundert den Studierenden der Kulturwissenschaften vorzulegen.
Auf uns Kinder der Welt übt dieser bedeutendste aller Mönchsregeltexte einen starken Reiz aus. Wenn Didaktik als Lehrkunst die Lernenden dort abholen soll, wo sie sich aufhalten, also bei ihren eigenen Werten, Gedanken und Gefühlen, dann gerät die Beschäftigung mit den Leitlinien des Ordens zum Abenteuer. An unseren Reaktionen auf das alte und noch immer junge Dokument erfahren wir, wo wir uns tatsächlich befinden. Dabei zeigt sich, dass die Anweisungen Benedikts ihre historische Fremdheit verlieren, wenn sie dem Daseinsgefühl der Gegenwart in die Hände zu arbeiten scheinen. Zum Beispiel beim optimistischen Welt- und Menschenbild des Regeltextes, bei seinem nüchternen Wirklichkeitssinn, bei seiner einfühlsamen Psychologie oder bei seiner Aufforderung zu grosszügiger Gastfreundschaft. Da hat Goethes Faust mal wieder Recht: Beim «gross Ergötzen, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen» kommt «der Herren (und Frauen) eigner Geist» zum Vorschein.
Der Spass mit einzelnen Kapiteln hört aber schnell auf, wenn durch die Lektüre der Zeitgeist zur Disposition gestellt wird. Der Text sperrt sich, wenn er Gehorsam einfordert und die Absage an den Eigenwillen oder wenn er die Tugenden der Geduld und Demut anmahnt. Da muss man als Dozent im Seminar das halbe Abendland von Aristoteles bis Cicero auf die Beine stellen, um den dicken Staub von einem so anrüchigen Begriff wie dem der Tugend wegzublasen. Es ist gar nicht so leicht, den Charme dieser ethischen Handlungsmaximen wieder hervorzuholen, die sich am goldenen Mittelweg orientieren. Gelingt dies, dann erscheint die Tugend der Geduld (im Unterschied zur Eselsgeduld) als der Respekt vor Entwicklungsprozessen, die ihre Zeit brauchen; eine solche Geduld ist angesiedelt zwischen erwartungsloser Passivität und zudringlicher Hektik. Und hinter dem altertümlichen Wort Demut findet man keine kriecherische Unterwürfigkeit, sondern das Mass der Mitte zwischen Kleinmütigkeit und Arroganz.
Überhaupt stellt Benedikts Programm ununterbrochener Selbstdisziplinierung und Reifung eine ziemliche Provokation dar, heute, wo doch alle finden, dass sie genau so, wie sie sind, ganz o. k. sind. Und zu allem Überfluss wird das Bemühen des Menschen auch noch dauernd evaluiert: «Das Auge Gottes sieht sein Tun, und die Engel erstatten darüber allezeit Bericht.» «Auch dort Spitzel», spöttelte eine Studentin.

In einem Punkt ist das Verdolmetschungsgeschäft schier nicht zu leisten: bei der Pünktlichkeit. Denn hier reibt sich das alte Konzept der Menschenführung an der verbreiteten Nonchalance und Wurstigkeit, die sich heute gerne mit Individualismus und Autonomiestreben tarnt. Benedikt widmet der Pünktlichkeit ein eigenes Kapitel. Kommt etwa ein Mönch verspätet zum Gottesdienst, «darf er nicht seinen ordentlichen Platz im Chor einnehmen, sondern er stehe als Letzter von allen hin oder an einen Platz abseits». Die Säumigen sollen dort «von allen gesehen werden und sich bessern, schon weil sie sich schämen müssen». Gleich draussen bleiben dürfen sie aber nicht, sagt der Menschenkenner Benedikt, denn sonst «legt sich vielleicht einer wieder nieder und schläft» — was bei den Seminarteilnehmern wiederum auf Verständnis stösst. Die Pünktlichkeit, heute so gering geschätzt, ist für die Benediktiner allerdings keine schikanöse disziplinarische Vorschrift. Sie ist spirituell motiviert, Zeichen ungeteilten Respekts gegenüber der Gemeinschaft und Ausdruck bedingungsloser Hochschätzung des Gottesdienstes. In unseren profanen Veranstaltungssälen gerieten wir ganz schön in Raumnot, wenn für alle zu spät Kommenden auch noch besondere Plätze vorgesehen werden müssten!

Hubert Herkommer ist Professor für
deutsche Literatur des Mittelalters an der
Universität Bern.

 
H. Herkommer